Wenn dein Mund mit dir selbst spricht
von Michaela Kleber
Der Mundraum ist eine der empfindsamsten und intimsten Regionen unseres Körpers. Im Gehirn kommen die Körperempfindungen im sogenannten sensorischen Kortex an. Der Mundraum – Lippen, Gaumen, Zähne, Zunge und Rachen – nimmt dort den größten Raum ein, viel mehr als seinem Anteil an unserer Körpermasse entspricht. In der frühen Kindheit steht der Mundraum im Zentrum der Wahrnehmung. Eine ganze Zeit lang nimmt das Kleinkind alles, was es erfassen oder begreifen möchte, erst einmal in den Mund.
Viele Redensarten zeigen, wie stark der Mundraum mit unserer Kommunikation, unserem Nervensystem und unserer Psyche verbunden ist. Oft geht es dabei um Herausforderung, Auseinandersetzung, Stress und Druck. Wir „haben an etwas zu kauen“, wenn es um die Bewältigung von Herausforderungen oder schwierigen Gefühlen geht. Und manchmal „beißen wir uns an einem Problem die Zähne aus“. Wir „haben den nötigen Biss“, wenn wir genügend Energie für eine Aufgabe haben und uns in bestimmten Situationen durchzusetzen wissen. Denjenigen, die uns dabei in die Quere kommen, „zeigen wir die Zähne“. Wir wollen „nicht alles schlucken“ und uns „nicht den Mund verbieten lassen“. Umgekehrt „beißen wir uns auf die Lippen“, um nicht mit unseren Reaktionen herauszuplatzen oder wir „bringen die Zähne nicht auseinander“, wenn wir eine Auseinandersetzung vermeiden wollen oder uns nicht getrauen, unsere Gefühle zu zeigen. Das Zähneknirschen verbinden wir mit Ablehnung oder Wut. Und wir „beißen die Zähne zusammen“, um einen fortdauernden Schmerz oder Stress klaglos zu ertragen und durchzustehen. Goethe bringt in einem Zitat von 1773 Wut und unterdrückten Schmerz zusammen: "Ich wollt nicht weinen. Ich wollte die Zähne zusammenbeißen und an meinem Grimm kauen". Kein Wunder also, dass die Zahnärzte inzwischen entdeckt haben, dass das Zähneknirschen und das zu häufige und zu feste Aufeinanderbeißen der Zähne oft psychosomatische Phänomene sind.
In den 40er bis 60er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts gehörte das Zähne-Zusammenbeißen bei vielen durch Krieg und Wiederaufbau überforderten Erwachsenen nicht nur fest zum eigenen Verhaltensrepertoire, sondern es wurde auch im Erziehungsstil weitergegeben, wie Sabine Bode in den Büchern Kriegskinder und Nachkriegskinder eindrucksvoll beschreibt. Seelischer Schmerz war keine Kategorie, Probleme der Kinder wurden häufig nicht ernst genommen. „Die meisten Erwachsenen duldeten keinen Widerspruch. Wie das im Alltag aussah, lässt sich an einer Szene aus dem Heinz-Erhardt-Film »Vater, Mutter und neun Kinder« von 1958 gut nachvollziehen. Alle sitzen am Tisch, die muntere Kinderschar benimmt sich aus heutiger Sicht völlig normal. Doch die Mutter ist um absolute Kontrolle bemüht, und so hagelt es ohne Pause Ermahnungen und Maßregelungen, genau so, wie es in der Nachkriegszeit üblich war: Sitz gerade, schling nicht so, sei nicht so vorlaut, wie sehen deine Fingernägel aus, man spricht nicht mit vollem Mund, sei nicht so neugierig, reiß dich endlich zusammen …"
Mit den Zähnen zu knirschen ist erst einmal ein Zeichen von innerer Unruhe und Anspannung und dient dem Stressabbau in Zeiten, in denen wir versuchen durchzuhalten, ohne uns zu beschweren. Möglicherweise sind die stressigen Zeiten auch schon vorbei, und das Aufeinanderbeißen der Zähne nur noch eine unbewusste Gewohnheit. Die bleibt jedoch nicht ohne Folgen, denn die Kaumuskeln, die das Kiefergelenk bewegen, sind die kräftigsten Muskeln in unserem Körper. Die Zähne werden abgerieben, Nacken- und Schulterverspannungen können verstärkt, Gesichts- und Kopfschmerzen bis hin zur Migräne oder sogar Tinnitus können ausgelöst werden. Manche Menschen können ihre Kiefergelenke nicht mehr reibungslos und schmerzfrei bewegen. Aufbiss-Schienen, wie sie der Zahnarzt verordnet, verringern den Kaudruck beim Knirschen und schützen die Zahnoberflächen. Die eigentliche Ursache des Problems, die unser Mund verrät, eine chronische innere Unruhe, ein Mangel an Pausen bei hohem Anforderungsdruck, die Gewohnheit, Stress oder seelischen Schmerz tapfer und klaglos zu ertragen, bleibt jedoch bestehen.
Hier kann vieles helfen, was wir im Yoga lernen:
- Wir lenken die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung von Körper und Geist im jetzigen Moment und wir üben, sie während der ganzen Yogastunde in der Wahrnehmung zu verankern bzw. immer wieder dorthin zurückzukehren.
- Die Verbesserung unseres Atemmusters, insbesondere die Fähigkeit, lange und ruhig auszuatmen, triggert den parasympathischen Teil unseres Nervensystems, der für Stressabbau und Beruhigung zuständig ist.
- Viele Yogaübungen helfen, den Nacken- und Schulterbereich gezielt zu entspannen. Wir können ohne großen Aufwand den Kieferbereich in diese Entspannung mit einbeziehen. Durch feine und sehr kleine Bewegungen mobilisieren wir die Kiefergelenke. Dabei verbessern wir auch unsere Eigenwahrnehmung. Wir lernen, die Kaumuskulatur genauer zu spüren und den Unterschied zwischen Anspannung und Entspannung deutlicher zu empfinden.
- Wenn tapferes Durchhalten in unserem Leben eine sehr starke Gewohnheit geworden ist (und wenn wir vielleicht sogar stolz darauf sind), kann es nötig sein, dass wir uns erst einmal die freundliche Erlaubnis geben, im Kiefer loszulassen und weich zu werden. Eine tiefe Einsicht und eine entsprechende Affirmation (z.B. „ich erlaube mir, loszulassen“, „ich erlaube mir, Pausen zu machen“) oder ein entsprechendes Mantra (z.B. OM Namo Namaha) können helfen, eine neue Gewohnheit zu setzen, die ganz allmählich das alte Muster schwächer werden lässt.
Letztendlich müssen wir lernen, Achtsamkeit, Eigenwahrnehmung, gute Bewegungs- und Entspannungsgewohnheiten und Freundlichkeit uns selbst gegenüber nicht auf die Yogamatte zu beschränken, sondern sie in unser Alltagsverhalten einsickern zu lassen. Dann hören wir wirklich zu, wenn der Mund uns von Unruhe, Stress und Überforderung erzählt, und sind vielleicht auch in der Lage, die richtige Antwort zu geben.