Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

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Was ist und was bewirkt Mantrapraxis?

Ein Mantra ist eine Silbe, ein Wort, eine Wunschformel oder ein kurzes Gebet, das gesungen, gesprochen, gemurmelt oder innerlich gehört werden kann und seine Wirkung vor allem durch ständige Wiederholung entfaltet. In der Sanskrit-Sprache bedeutet das Wort manas Geist, Verstand, Denken und das Wort tram Schutz oder schützen oder Instrument. Mantra ist also ein Instrument des Geistes, etwas, was den Geist schützt. Wovor? Vor sich selbst! Vor all den Arten und Weisen, wie unser eigenes Denken in die Irre gehen und sich im Kreis drehen kann und wie wir uns darin verlieren können.

Mantra wirkt über den Klang

Klänge – und das heißt einfach die Lautwerte von Buchstaben und Silben – können energetisieren oder beruhigen oder energetisch neutral sein. Am einfachsten kann man das mit Hilfe von einsilbigen Mantren ausprobieren. Tönt man dem Ausatmen immer wieder die Silbe HRAM (gehauchtes H wie in Küche und gerolltes R), solange der Atem reicht und wiederholt man jeweils nach einer kleinen Pause von ein oder zwei ruhigen Atemzügen diese Übung einige Male, so kann man im Nachspüren leicht wahrnehmen, dass sich Körper und Geist wacher und lebendiger anfühlen. Die gleiche Übung mit der Silbe LAM hingegen wirkt eher beruhigend und erdend. Dieser Effekt stellt sich über das wiederholte Bilden der Laute im Körper her, ohne dass wir dafür dem Mantra irgendeine Bedeutung zuschreiben müssen.

Mantra wirkt über die Wiederholung

Das Mantra ist ein Wort oder ein Gedanke und kann damit andere Worte oder Gedanken aus unserem Geist verdrängen. Sind quälende Gedanken vorhanden, die sich in einer Endlosschleife wiederholen, so können wir sie unterbrechen und ersetzen, indem wir stattdessen über einen gewissen Zeitraum ein Mantra wiederholen. Auch wenn der Geist unruhig oder aufgeregt zu diesem und jenem wandert, können wir ihn durch Mantrapraxis zu Konzentration und Einsgerichtetheit und damit zur Ruhe bringen. Die Konzentration auf ein Mantra ist sogar deutlich leichter, als die weit verbreitete Meditations-Methode, den Atem zu beobachten, weil das Mantra anderen Gedanken direkt den Platz in unserem Geist wegnimmt.

Die Evolution hat unser Gehirn im Lauf der Zeit zu einem Instrument gemacht, das vor allem auf die Vorhersage von Ereignissen in unserer unmittelbaren Umgebung ausgerichtet ist. Unbekannte Situationen und ein Mangel an Vorhersehbarkeit können große Angst auslösen. Mantrapraxis gibt dem Gehirn durch die ständige Wiederholung auch ein Gefühl von Vorhersehbarkeit und Kontrolle, das bei Nervosität, Angst- und Panikattacken wirkungsvoll eingesetzt werden kann.

Mantra wirkt über die Erinnerung

Als Wort oder Wunschformel oder als Anrufung einer Gottheit hat jedes Mantra eine Bedeutung, die Assoziationen und Erinnerungen auslösen kann. Wenn diese Erinnerungen sehr tief gehen, erfassen sie unser ganzes Wesen, das Körpergefühl, den Zustand im Nervensystem, die Sinneseindrücke, die Gedanken und Gefühle.

Das kennen wir auch von anderen Erinnerungen, ganz unabhängig von der Mantrapraxis. Bei vielen Menschen ist das Weihnachten der Kinderzeit eine Erinnerung, die ein solches Gefühl auf allen Ebenen des Seins auslöst: freudige Erwartung, ein unbestimmtes Gefühl von wundersamen Ereignissen, ein Hauch von Heiligkeit und Größe, ein Staunen, ein Aufgehoben- und Geborgen-sein in der Familie, und dies alles verbunden mit ganz spezifischen Sinneseindrücken, mit Gerüchen, Geschmackserlebnissen, Lichtern, Liedern etc..

Eine solche Art von Weihnachtserinnerung ist ein Beispiel für ein Bhava, ein ganz besonderes So-Sein in Körper, Sinnen, Gefühlen und Gedanken. Dieser Seinszustand ist über viele Jahre in der Kindheit durch die Familienrituale in uns aufgebaut und gepflegt worden und lässt sich oft über einen einzigen Sinneseindruck, eine Melodie oder einen Geruch mindestens andeutungsweise wieder abrufen.

Das Bhava ist das Herz des Mantras

Wie kommt nun das Mantra zu seinem Bhava? Wie entscheidet sich, was genau ein Mantra in uns auslöst? Es kommt darauf an, welche Erfahrung, wir mit dem Mantra gemacht haben, wie das Mantra „aufgeladen“ worden ist. Das ist nicht anders als mit dem Beispiel von Weihnachten. Auch da hängt alles davon ab, welche lebensgeschichtlichen Erfahrungen vorhanden sind und wachgerufen werden.

Wenn etwa in einem mehrtägigen Yoga- oder Meditationsseminar ein bestimmtes Mantra verwendet wird, so lädt es sich auf mit der Stimmung, dem Gruppengefühl, dem Vertrauen zur Lehrerin oder zum Lehrer, der Hingabe an die Übung, der Stille im Geist und den individuellen Erkenntnissen, die in diesem Retreat entstehen. Verwenden wir dann später das Mantra zuhause, so kommen wir wieder in Verbindung mit dieser ganz bestimmten Möglichkeit zu sein, die wir im Retreat kennengelernt haben; ein Bhava von Vertrauen, Hingabe, Stille und Zu-mir-selbst-nach-Hause-kommen wird wachgerufen, sobald das Mantra den Körper-Geist wieder füllt.

Und umgekehrt wird das Mantra jedes Mal, wenn du es chantest, sprichst oder innerlich hörst, ein wenig mehr aufgeladen mit der Stimmung des Augenblicks und der Bedeutung, die du diesem Moment gibst. Auf diese Weise kannst du eine Absicht in deine Meditation legen. Eine Art des ganzheitlichen So-Seins, die du in deinem Körper-Geist öfter erleben möchtest, verbindest du mit dem Klang deines Mantras und – wenn du das oft und intensiv genug getan hast – kannst du dieses Bhava einfach durch die Hinwendung zum Mantra wieder lebendig werden lassen.

Nehmen wir zum Beispiel das bekannte Mantra OM Shanti Shanti Shanti. SHANTI heißt Frieden, und so liegt es nahe, diesen Klang mit einem Gefühl von stiller Friedlichkeit, von Zufriedenheit und Erfülltheit, oder von einem tiefen In-Frieden-Sein mit dir selbst und der Welt aufzuladen. Jedes Mal, wenn du es benutzt, erinnerst du dich daran, wie ein solches So-Sein sich in Körper und Nervensystem, in Stimmung und Denken anfühlt, bis das Mantra stabil damit verbunden ist und damit dein ganz individuelles Bhava erhalten hat.

Mantra ist eine Praxis für den Alltag

In einem Meditations-Seminar berichtete einmal ein Teilnehmer, dass er immer innerlich sein Mantra hört, sobald er auf der Straße jemandem begegnet, der oder die telefoniert. „Aber das passiert doch ständig“, wandte eine Teilnehmerin ein. „Umso besser“, meinte der Mann.

So ist es mit dem Mantra: Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ziehen wir es heraus und verbinden uns mit seiner Essenz, dem Bhava. Wir beruhigen den Geist und bringen ihn nach Hause und verbringen immer mehr Zeit da, wo der Geist zuhause ist, in Ruhe und Klarheit, Stabilität und Leichtigkeit und in großer Freude.