Meditation in Krisenzeiten
von Michaela Kleber
Krisenhaftes Geschehen, schlechte Nachrichten oder auch nur negative Vorstellungen lösen in unserem Körpergeist Stress aus: Eine ganze Kaskade von hormongesteuerten Reaktionen versetzt den Körper in Alarmbereitschaft und bereitet ihn auf Flucht oder Kampf vor. Dazu gehört auch, dass das Gehirn auf schnelle Reaktionen umschaltet: Bereiche, die für ruhige Überlegung und Analyse, für das Urteilsvermögen, für Lernen und Erinnern zuständig sind, werden eher deaktiviert; Bereiche, die für die Aufmerksamkeit der Sinnesorgane, für die Entstehung von Wut und Angst und für schnelle, eher instinktgeleitete Reaktionen zuständig sind, werden stimuliert. Unser Denken ist deshalb unter Stress fehleranfälliger, unser Handeln unter Umständen schnell aber auch oft unüberlegt, das heißt, direkt von Wut oder Angst gesteuert.
Die Krisen, in denen wir gegenwärtig stecken – rasche Klimaveränderung, naher Krieg, Flüchtlingsströme, Energieknappheit, Inflation, Auseinanderdriften der Gesellschaft in Gruppen, die kaum noch miteinander kommunizieren können – diese Krisen erfordern von uns individuell kein schnelles Handeln, keine Flucht und keinen Kampf. Vielmehr geht es darum, Unsicherheit und den Verlust alter (falscher) Gewissheiten zu ertragen, intelligente und nachhaltige Veränderungen im persönlichen Umgang mit Energie, Mobilität und Konsum zu finden und einzuüben, sich möglicherweise politisch und sozial neu oder anders zu engagieren, oder vielleicht auch einfach nur die eigenen materiellen und geistig-psychischen Ressourcen besser zu pflegen und mehr zu teilen. All das braucht einen ruhigen, klaren, mitfühlenden und am besten auch heiteren Geist. Meditation gibt uns eine ausgezeichnete Chance, die dazu nötige Ruhe und Gelassenheit zu bewahren und wieder herzustellen, wenn sie verloren gegangen sind.
In Krisenzeiten sind die Gedanken und Gefühle oft besonders bedrängend und ist der Geist entsprechend besonders wild. Wenn wir uns mitten im Chaos zur Meditation hinsetzen, bringen wir unseren Geist genau so mit, wie er jetzt gerade ist. Alles darf sein. Es gibt kein Richtig und Falsch, keine Voraussetzungen außer der Bereitschaft, geduldig mit dem zu sein was ist, ohne uns in den Inhalt der Gedanken und Gefühle zu verwickeln.
Solange in unserem Geist Aufruhr herrscht, üben wir, uns auf den Atem zu konzentrieren. Immer, wenn wir merken, dass wir abgelenkt waren, kehren wir mit der Aufmerksamkeit zum Atem zurück. Wenn sich dann die Gedanken und Gefühle allmählich beruhigen und eine gewisse Stille einkehrt, kann der Atem in den Hintergrund treten und der Fokus weit werden. In diesem offenen Gewahrsein wird der weite Raum des Bewusstseins deutlicher, in dem alle Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle erscheinen und wieder vergehen, so als hätten wir vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen, und nun taucht der Wald wieder auf. Dieser weite Raum, der immer da ist, ist unser Zuhause. Wenn der Geist lernt, im Bewusstsein selbst zu ruhen, anstatt sich in den Inhalten des Bewusstseins zu verlieren, können beunruhigende, zornige und ängstliche Gedanken immer noch auftauchen, aber wir schauen ihnen einfach zu, wie sie kommen und gehen. Sie bringen uns nicht mehr aus dem Gleichgewicht.
Auch wenn dies meistens nicht sofort gelingt, gibt es eine gute Nachricht: Es gibt keine misslungene Meditationssitzung. Es mag vorkommen, dass wir lange gesessen haben, ohne dass innere Ruhe entstanden ist. Vielleicht mussten wir den wilden Geist immer und immer wieder zurückbringen zum Atem. Aber allein der Wille, das zu tun, so oft es auch immer nötig sein mag, führt dazu, dass die Gewohnheit auf jeden Gedanken und jedes Gefühl aufzuspringen und uns davon jagen und unter Strom halten zu lassen, schwächer wird. Und manchmal wird im Licht unserer Achtsamkeit deutlich, dass aktuelle Ereignisse einfach nur alte Muster in unserem Geist getriggert haben, bedrängende Gedanken und Gefühle, die durch geduldiges Immer-wieder-Hinschauen allmählich an Kraft verlieren. Jede Meditationssitzung lässt unsere Gelassenheit und unser Vertrauen in die Übung ein kleines bisschen wachsen.
Wenn wir dann aus Gelassenheit und Klarheit heraus in unserer Umgebung handeln und interagieren, strahlt das auf andere aus. So wie wir uns gegenseitig mit unserer Wut und Angst anstecken können, so können wir uns auch gegenseitig durch einen stabilen Geist und ein fried- und liebevolles Herz Ruhe und Sicherheit geben. Das bedeutet, dass wir nicht für uns alleine meditieren, dass unsere Bemühung um Meditation nicht ein Rückzug aus der Welt sondern ein Geschenk an die Welt ist, vielleicht ist sie sogar der wichtigste Beitrag, den wir leisten können. Mit dieser Motivation zu meditieren gibt große Kraft. Im tibetischen Buddhismus zum Beispiel ist es deshalb üblich, am Ende der Meditation ein Widmungsgebet zu sprechen. Damit ruft man sich immer wieder ins Bewusstsein, dass wir mit allen Wesen verbunden sind und in diesem Netz der Beziehungen für uns selbst und die anderen Verantwortung tragen.
Und nicht zuletzt ist es gut zu wissen, dass wir beim Meditieren nie alleine sind. In einer deutschen repräsentativen Umfrage von 2018 mit 2126 TeilnehmerInnen ab 14 Jahren wurde festgestellt, dass 6,6 Prozent eine eigene Meditationspraxis aufweisen; 0,7 Prozent meditieren täglich. Hochgerechnet auf die Bevölkerung ab 14 Jahren bedeutet das, dass allein in Deutschland eine gute halbe Million Menschen täglich meditieren und noch einmal mehr als 4 Millionen mindestens gelegentlich. Weltweit variieren die Schätzungen zwischen 200 und 500 Millionen Meditierenden. Wann auch immer wir uns zur Meditation hinsetzen, können wir sicher sein, dass viele andere das ebenfalls gerade tun. Vielleicht kann auch dieser Gedanke ein Gefühl von Verbundenheit schaffen, das über unsere jeweils unterschiedlichen Weltanschauungen und Meinungen hinausweist und uns trotz aller Schwierigkeiten in dieser Welt zuhause sein lässt.