Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

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Herzensgüte kultivieren

von Michaela Kleber

Als einer meiner Neffen ein kleiner Jungen von drei Jahren war, erzählte er mir eines Abends von seinen neuen Erfahrungen im Kindergarten und von all den Kindern, die er „blöd“ fand. Einige Wochen später sprach ich ihn wieder darauf an, und da waren die meisten Kinder nicht mehr blöd, sondern auf ihre je spezielle Weise interessant oder sogar mit ihm befreundet. Ich fragte ihn, ob die Kinder sich verändert hätten. Nach kurzem Nachdenken kam seine Antwort: „Nein, mein Herz ist größer geworden.“

Vor ähnlichen Situationen stehen wir immer wieder: Wir sind angesichts von großen Veränderungen in unserem Leben und in der Welt überfordert, empfinden das Unbekannte als Bedrohung und unsere eigene Verunsicherung als unangenehm, wir wollen nicht aus unserer Komfortzone heraus oder fühlen uns verletzt oder zu kurz gekommen. Und immer wieder haben wir die Wahl: Wir können entweder anderen die Schuld geben, Stolz, Zorn und Eifersucht pflegen, uns hinter unseren Besitztümern und starren Meinungen verschanzen und nur noch mit Menschen kommunizieren, mit denen wir Lebensweise und Weltsicht teilen. Oder wir nehmen Schmerz und Verletztheit, Verlegenheit, Ängstlichkeit und Unsicherheit immer wieder mutig in unser Herz und lassen es davon weicher und weiter werden. Dann hat vieles Neue, Fremde und Andere auf einmal Platz und hört ganz von selbst auf, neu, fremd und anders zu sein.

Um dieses zarte, verständnisvolle Berühren der wunden Stellen in unserem Herz geht es in einer uralten Praxis aus den Weisheitstraditionen des Ostens, dem Üben von Freundlichkeit, Mitgefühl, (Mit-)Freude und Gleichmut. Dabei ist die Freundlichkeit die Basis, ohne die die drei anderen nicht gedeihen können. Diese Freundlichkeit, Maitrī (Sanskrit) oder Metta (Pali, die Sprache des Buddha), wird in der Literatur oft als „Liebende Güte“ wiedergegeben, ein Anglizismus, der aus der wörtlichen Übersetzung von loving kindness herrührt. Herzensgüte ist vielleicht der deutsche Begriff, der dem am nächsten kommt.

Wie können wir Freundlichkeit oder Herzensgüte üben?

In der Meditation, wenn wir den Geist nach Hause gebracht haben in die unmittelbare Wahrnehmung dessen, was jetzt ist, und wenn es dann in uns ein wenig friedlicher und stiller geworden ist, erinnern wir uns daran, wie es sich anfühlt, wohlwollend, liebevoll oder gütig zu sein und zu empfinden.

Wir beginnen immer wieder da, wo es uns besonders leichtfällt, wo wir ganz von selbst so etwas wie Zärtlichkeit empfinden, vielleicht gegenüber einem Kind oder einem Tier. Oder wir erinnern uns an jemanden, der oder die irgendwann in unserem Leben uns selbst gegenüber dieses liebevolle und unbedingte Wohlwollen ausgestrahlt hat. Wir tasten uns an dieses Gefühl heran, wecken es auf und lassen es ganz lebendig werden. Wir richten es auf uns selbst und auf diejenigen Wesen in unserem Leben, zu denen es am leichtesten fließt. Traditionell übt man das mit einer festen Formel, die etwa so lauten könnte: Möge ich in Sicherheit und in Frieden leben; möge ich glücklich und leicht sein in Körper und Geist.

Und dann erkunden wir, ob unser Herz weiter werden und sein Interesse, sein Wohlwollen und seine Güte auch auf nahe Menschen ausweiten kann, mit denen wir es nicht immer ganz leicht haben, oder auf solche, die wir nicht kennen und die uns nicht viel bedeuten. An Menschen, die wir nicht ausstehen können, denken wir erst ganz zuletzt, wenn wir schon viel Übung haben.

Außerhalb der Yogamatte kann diese Übung ganz natürlich in den Alltag einfließen. Auf dem Weg zur Arbeit, im Bus, an der Supermarktkasse, wo auch immer wir Menschen begegnen, können wir ausprobieren, ob unser Herz gerade in Kontakt mit seiner Güte und Freundlichkeit kommen kann.

Drei möglichen Missverständnissen möchte ich an dieser Stelle vorbeugen:

Die Herzensgüte, die wir üben, ist echt

„Ich pfeife auf eine Freundlichkeit, die jemand erst üben muss“, hat mir einmal eine Freundin gesagt. „Freundlichkeit und Mitgefühl sind entweder spontan da, oder sie sind nicht echt.“ Wenn wir so denken, vergessen wir, dass wir auch die Unfreundlichkeit, die Abschottung und die Enge des Herzens „geübt“ haben und jedes Mal üben, wenn sie „spontan“ auftauchen. Was wir spontan nennen, sind ja meist automatisierte Reaktionen aus alten Gewohnheiten heraus. Und immer wenn wir aus Gewohnheit reagieren, wird die Gewohnheit noch ein bisschen stärker. Warum also nicht ein neues inneres Verhalten ausprobieren und zur Gewohnheit machen, wenn wir spüren, dass es das Potenzial hat, uns weiter, weicher und fröhlicher zu machen? Beim Üben achten wir darauf, uns nicht zu überfordern, sondern immer wieder offen zu sein für die Gefühle, die wirklich da sind.

Es gibt keinen Bypass um unangenehme Gefühle herum

Maitrī zu üben heißt nicht, dass wir uns in eine Freundlichkeitswolke hüllen, um unangenehme Gefühle nicht fühlen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Nicht umsonst heißt der Titel eines sehr hilfreichen Buches zum Thema „Geh an die Orte, die du fürchtest“ (Pema Chödrön, The Places That Scare You, deutsche Ausgabe Arbor Verlag 2002). Der Weg zur Weite des Herzens geht manchmal mitten durch den Schmerz hindurch. Auf jeden Fall kommen wir in Kontakt mit unseren Vorurteilen und Ressentiments, mit alten Verletzungen und neuen Unsicherheiten. Das alles darf sein und doch ist da auch Platz für eine feine innere Zärtlichkeit, ein Wohlwollen, das ganz allmählich und ganz natürlich immer mehr seine Grenzen verliert.

Das Kultivieren von Herzensgüte ist eine innere Übung

Unbedingtes Wohlwollen gegenüber allen Wesen heißt nicht, dass wir nach außen hin windelweich werden. Ja, es macht uns ganz von selbst auch in unserem äußeren Verhalten friedfertiger und freundlicher, aber es geht nicht auf Kosten von Klarheit und Angemessenheit. Im Alltagsleben die eigenen Interessen zu wahren, sich im richtigen Moment zu schützen, jemandem, der übergriffig handelt, deutliche Grenzen zu setzen, jemandem nicht alles zu geben, was sie oder er haben möchte, das alles ist möglich aus einem grundsätzlichen Wohlwollen heraus, mit ruhigem Herzen und klarem Verstand, ohne dass wir dafür die giftigen Energien von Gier, Zorn oder Verachtung benötigen.

Auch sollten wir nicht darauf warten, dass unsere veränderte innere Haltung von anderen bemerkt, wertgeschätzt oder gar erwidert wird. Wir verbinden die Übung nur mit der einen Absicht, unser eigenes Herz besser kennenzulernen und die Ursachen des Glücklichseins ein wenig tiefer zu verstehen.