Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

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Meditation als Weg zur Gelassenheit

von Michaela Kleber

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit. (Viktor Frankl)

Dieses Zitat von Viktor Frankl beschreibt sehr genau, was ich mit Gelassenheit meine: Freiheit von der gewohnheitsmäßigen Reaktivität unseres Geistes. Im Alltag ist oft kein Raum zwischen Reiz und Reaktion. Die Wahrnehmung eines äußeren Reizes, die Einordnung dieser Wahrnehmung aufgrund alter Erfahrungen und Muster in unserem Geist und die Reaktion darauf finden fast im selben Moment statt. Unsere Reaktivität zeigt sich im automatischen Greifen nach (und Klammern an) jeder angenehmen Erfahrung, im Fliehen vor unangenehmen Erfahrungen oder dem Zorn auf deren vermeintliche Verursacher.

Wie kann Meditation dazu führen, dass dieser Raum und diese Gelassenheit entstehen? Und wie zeigen sich Freiheit und „Lassen-können“ in der Meditation? Die folgenden Beispiele sollen davon einen Eindruck vermitteln.

Wenn um uns herum Ruhe einkehrt, wenn der Gong ertönt und wir wissen, dass jetzt eine Zeit des Stillsitzens und Nichtstuns begonnen hat, wird uns oft erst so recht bewusst, wie unruhig, aufgeregt und agitiert oder auch lustlos und erschöpft unser Geist ist. Wir sind vielleicht in einem Zustand, der sich nicht angenehm anfühlt, den wir nicht mögen, und hoffen oder erwarten, dass sich dies möglichst schnell ändern soll. Oft berichten mir Meditierende, dass sie die Meditation abbrechen, wenn nicht schnell ein einigermaßen angenehmer Geisteszustand erreicht worden ist. Genau hier, beim Hinsetzen zur Meditation beginnt die Übung der Gelassenheit: Wir setzen uns so auf unser Kissen, wie wir gerade sind – ruhig oder unruhig, wach oder müde, mit einem stillen oder einem laut plappernden Geist, friedlich oder aggressiv, alles darf genau so sein wie es jetzt gerade ist. Das Niedersetzen zur Meditation ist wie ein Heimkommen, ein Zuflucht-nehmen und Aufatmen, unser inneres Sofa, auf dem wir nichts beweisen müssen und in jedem Zustand willkommen sind. Wir wenden uns dem, was ist, mit großer Freundlichkeit und ohne Erwartungen zu und entspannen uns mitten hinein.

Und dann beginnt der Prozess von Übung und Loslösung, wie es im Yogasutra heißt: Wir konzentrieren uns auf einen Fokus, den Atem, ein Bild, ein Mantra. Oft dauert es nicht lange, bis die erste Ablenkung auftaucht. Vielleicht juckt die Nase, und noch bevor uns das so recht bewusst geworden ist, kratzen wir schon. Wir erinnern uns an ein unangenehmes Erlebnis vom Tag, sofort kocht Zorn hoch auf die Person, mit der wir dieses Erlebnis verbinden, und ehe wir es recht bemerkt haben, sind wir dabei, uns Geschichten über die Motivation dieses Menschen auszudenken. Oder es entsteht Langeweile und unser Geist sucht sofort Ablenkung im Tagträumen über irgendeine interessantere Aktivität. Oder wir sind wirklich in die Stille gekommen und haben etwas Beglückendes erlebt, und plötzlich finden wir uns damit beschäftigt, dieses Erleben festhalten zu wollen. In all diesen Situationen gibt es irgendwann den Moment, in dem wir merken, was gerade geschehen ist. In der Stille sehen wir unsere eigene Reaktivität wie unter einem Vergrößerungsglas. Dann gilt es loszulassen und zurückzukehren zum Fokus unserer Meditation, geduldig, immer und immer wieder.

Dieses über längere Zeit immer wieder wiederholte bewusste Bemerken unserer Reaktivität führt ganz von selbst dazu, dass zwischen Reiz und Reaktion ein Raum entsteht, in dem Freiheit möglich wird. Irgendwann spüren wir, dass die Nase juckt und können bewusst entscheiden, ob wir kratzen möchten oder warten, bis das Jucken von selbst aufhört. Wir erleben Ärger, Langeweile, eine aufregende Vision und müssen nicht mehr unmittelbar reagieren. Ein Reiz ist da, wir spüren noch das Angenehme oder Unangenehme daran, und wir können es einfach dabei belassen. Anhaftung und Abneigung verlieren allmählich an Kraft. Wir kultivieren Gelassenheit.

Dass wir das können, setzt etwas Wichtiges voraus: das Vertrauen darauf, dass wir im Tiefsten in Ordnung sind, grundlegend gut, dass unser eigentliches Wesen eine beständige und feine Freudigkeit ist, das was in der Tradition des Advaita Vedanta als Sat-Chit-Ananda (Sein-Bewusstsein-Glücklichsein) ausgedrückt wird. Wenn Stille einkehrt und alles Äußere, alles Persönliche nach und nach von uns abfällt wie Zwiebelschalen, bleibt ein ganz zartes Bewusstsein von Ich-bin, verbunden mit eben jener feinen Freudigkeit. Das zu erleben oder mindestens zu ahnen erzeugt in uns eine große Zuversicht, ein Vertrauen, das auf Erfahrung gründet und das jedes Suchen und Kämpfen überflüssig erscheinen lässt. Alles Wesentliche ist immer schon da. Wie es in einem Gedicht von Gendün Rinpoche (Zogchen-Meister, 1918-1997) heißt: Begib dich nicht in den dichten Dschungel auf der Suche nach dem großen erleuchteten Elefanten. Er sitzt schon gemütlich zuhause an deinem Herd.