Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

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Vom "Work-out" zum "Work-in"

von Michaela Kleber

Als der Weise Patañjali – wahrscheinlich zwischen 200 und 400 nach Christus – das yogische Wissen der letzten tausend Jahre im Yogasutra zusammengefasst hat, war nirgendwo in seinen 196 Merksätzen die Rede von Kopf- oder Schulterstand, von Sonnengrüßen oder komplizierten Stellungen auf einem Bein. Yoga war vielmehr die Kunst und die Disziplin (oder die Fähigkeit und der Wille), den Geist zur Ruhe zu bringen. Letztlich heißt das, sich nicht mehr hineinziehen zu lassen in das bunte Kaleidoskop der Alltagsdinge, in die damit verbundenen Gedanken, Gefühle und Willensimpulse, in all das anstrengende Haben-Wollen und Vermeiden-Wollen des Alltagsgeistes, sondern still und geduldig beobachtend der unendliche Raum der Bewusstheit zu sein, in dem alle diese Phänomene aufsteigen und in den hinein sie sich wieder auflösen. Dieses innere Stillwerden und feinstoffliche Spüren meint der indische Yogalehrer A.G. Mohan, wenn er immer wieder gerne sagt „Yoga is not a work-out but a work-in“.

Patañjali sprach damals sicherlich zu Menschen, die keine familiären Verpflichtungen (mehr) hatten und die sich – mindestens für längere Zeiträume – aus der Gesellschaft zurückziehen und der Meditation widmen konnten und das auch wollten, im besten Falle aus der tiefen Erkenntnis, dass nichts Äußeres und Vergängliches uns dauerhaft glücklich machen kann. Er wollte sie lehren, jede körperliche und geistige Unruhe und jedes Getrieben-Sein loszulassen, um in der Stille der Nicht-Reaktivität heitere Gelassenheit und verlässlichen Frieden zu finden. Doch wie kann das für uns funktionieren, die wir nicht in einer freiwillig gewählten Abgeschiedenheit leben, sondern mitten auf den hektischen Marktplätzen dieser Welt?

Als ich vor rund 40 Jahren begonnen habe, Yoga zu üben, war Stillsitzen und dabei nichts tun als nach innen zu schauen für mich beinahe unvorstellbar. Viel zu groß waren der Bewegungsdrang (weniger positiv könnte man auch von motorischer Unruhe sprechen) und der Impuls ständig „etwas zu machen“. Irgendwann habe ich entdeckt, dass nach einer Stunde kräftigen körperlichen Übens das stille Sitzen plötzlich nicht nur möglich, sondern sogar angenehm war. Inzwischen habe ich den Verdacht, dass unter den Yogaübenden und sogar unter den Yogalehrenden dieser besonders aktive Typ Mensch überdurchschnittlich häufig vertreten ist. „Wir“ müssen uns erst einmal bewegen und je nach Situation vielleicht sogar „auspowern“, um die Stille uneingeschränkt begrüßen und wertschätzen zu können. Dass es mir selbst inzwischen längst nicht mehr so geht, ist sicher nicht nur der meditativen Erfahrung, sondern auch dem Alter geschuldet.

Wer sich von dieser Beschreibung angesprochen fühlt, tut gut daran, nach dem Sport oder nach einer Serie kräftiger Vinyasas nicht einfach nur zu entspannen und sich auf angenehme Weise abzulenken, sondern das Abklingen des Bewegungsdrangs zu nutzen für eine meditative Pause, ein stilles Präsent-Sein mit wachem aufmerksamem Geist während der Körper sich von der Anstrengung ausruht.

Wie alles, was wir auf der Yogamatte lernen, kann auch diese Gewohnheit in unser Alltagsverhalten einsickern und sich darin segensreich auswirken: Anstatt nur zwischen Aktivität und Trägheit, zwischen Getrieben-Sein und Erschöpfung hin und her zu pendeln, finden wir immer wieder kleine und größere Lücken zwischen Nacht und Tag, zwischen Arbeit und Feierabend, zwischen zwei Aktivitäten, vielleicht sogar zwischen zwei Sätzen in einem Buch oder zwischen zwei Gedanken. Diese Lücken oder Pausen sind eine wunderbare Gelegenheit, für eine Stunde oder nur für einen Moment entspannt und wach zu sein, und mit großer Klarheit wahrzunehmen, was jetzt ist, ohne uns in den Inhalten des Geistes zu verlieren. Und irgendwann entdecken wir im weiten Raum der Bewusstheit eine feine Freudigkeit und merken, dass dies der Ort ist, an dem wir bei uns Selbst zuhause sind.