Verbundenheit
von Michaela Kleber
In unserem Alltagsbewusstsein verstehen wir uns als relativ autonome Individuen, getrennt von anderen Menschen und getrennt von der übrigen Welt, von den Dingen, den Tieren, den Pflanzen, der Landschaft und den Elementen. Verbundenheit erleben wir hauptsächlich über Liebe und Freundschaft, über die Zusammenarbeit an gemeinsamen Aufgaben oder über unseren Sinn für Schönheit. Diese Sicht von unserem Verhältnis zur Welt ist nicht selbstverständlich. Wir sind nicht damit geboren worden, sondern haben sie im Kindes- und Jugendalter gelernt und geübt und – wenn alles gut gegangen ist – dabei ein einigermaßen stabiles Ichgefühl und ein halbwegs gesundes Selbstbewusstsein entwickelt.
Wer sich mit der Philosophie des Yoga und des Buddhismus beschäftigt weiß, dass wir im Erwachsenenalter irgendwann vor der umgekehrten Aufgabe stehen: die selbstkonstruierte Vorstellung vom festgefügten und separaten Ich wieder ein wenig ins Fließen kommen zu lassen und dabei die tiefe Verbundenheit mit allem Lebendigen wiederzuentdecken. Wenn wir nämlich über einer allzu festen Identifikation mit unseren Rollen und Aufgaben, Meinungen, Gewohnheiten und persönlichen Eigenheiten alles Spielerische aus unserem Umgang mit Selbst und Welt verloren haben und wenn wir in Überbetonung unserer Unabhängigkeit keinen Zugang mehr haben zu unserem Einssein mit der Welt, kann ein so verfestigtes Selbstbild zur Quelle von Leiden werden.
Worum geht es, wenn in den spirituellen Traditionen von Verbundenheit die Rede ist? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich drei Aspekte andeuten.
Abhängiges Entstehen
Alle Dinge und alle Wesen einschließlich meiner selbst entstehen und existieren in Abhängigkeit von unzähligen Stoffen, Ereignissen und Prozessen: Die Jacke, die ich gerade trage, besteht aus der Wolle von Schafen, zu deren Existenz Pflanzen, Wasser, Luft und Sonne erforderlich waren. Menschen haben sie gehütet, gepflegt, geschoren und die Wolle verarbeitet. Mindestens ein Teil des Verarbeitungsprozesses fand in Fabriken statt und hing von Werkstoffen, Energie und technischem, organisatorischem und gestalterischem Wissen ab. Und wenn ich versuche, mir den Weg dieser Jacke bis zu mir auszumalen und jedes einzelne Ereignis auf dem Weg mit all seinen Ursachen und deren Ursachen und so fort, so komme ich schnell an die Grenzen meiner Vorstellungskraft und habe das Gefühl, dass in dieser Jacke die ganze Welt enthalten ist von den Elementen bis hin zu den Machtstrukturen.
Nicht anders verhält es sich mit mir selbst: Ohne westliches wissenschaftliches Denken zu verlassen, muss ich davon ausgehen, dass meine Geburt Teil einer Ereigniskette ist, welche die ganze Geschichte des Universums durchzieht. Und im Laufe meines Lebens hat über die Wesen, die mir begegnen, die Dinge, die ich benutze, die Nahrungsmittel, die ich esse, und selbst die Gefühle und Gedanken, die durch meinen Kopf gehen, direkt und indirekt die ganze Welt auf mich eingewirkt und zu meinem Überleben und meiner Lebensqualität beigetragen. Angesichts dieser einfachen Wahrheit erscheint mir mein individuelles Gefühl von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit (das trotzdem immer noch da ist) beinahe lächerlich.
Wesensgleichheit
Dass alle Menschen miteinander verbunden sind, ist auch für Agnostiker leicht einzusehen. Dass sie in ihrem innersten Wesen gleich sein sollen, klingt schon eher nach einem religiösen Glaubenssatz. Meine Grundschulzeit verbrachte ich in einer katholischen Klosterschule. Die religiöse Erziehung dort habe ich in keiner guten Erinnerung. Doch es gibt Ausnahmen: Ich mag neun Jahre alt gewesen sein, als ein Kaplan im Religionsunterricht vorschlug, alle Menschen, denen wir begegneten, als Kinder Gottes zu betrachten. Monatelang habe ich das auf dem Schulweg immer wieder ausprobiert, habe irgendeinen fremden Menschen betrachtet und mir vorgestellt, dass er – unabhängig von seiner individuellen Persönlichkeit und seinem Verhalten – im innersten Kern gleich wertvoll sei wie ich selbst und alle anderen. Diese Übung hat mich fasziniert, weil ich gespürt habe, dass sie meinem eigenen Herzen guttat. Irgendwann habe ich sie vergessen und erst wieder erinnert, als ich mit dem tibetischen Buddhismus in Berührung kam.
Der Geist jedes Menschen, so hörte ich da, hat Buddha-Natur. Das heißt, er hat von Natur aus das Potenzial zu Weisheit und Mitgefühl. Klares Sehen und Warmherzigkeit müssen also nicht (von außen) erworben werden, sondern (von innen) gepflegt. Dass wir sie in uns selbst manchmal nicht erkennen können und dass sie in unserem Denken und Handeln manchmal nicht sichtbar sind, hat mit schlechten Gewohnheiten, traumatischen Erlebnissen und neurotischen Verwicklungen zu tun. Alle diese Dinge vernebeln und verdunkeln aus buddhistischer Sicht den Geist, aber sie ändern nichts an seiner strahlenden Natur. Der Sinn aller meditativen Übungen besteht dann letztlich darin, die Verkrampfungen des Herzens zu lockern und diese unsere Natur spürbarer und sichtbarer werden zu lassen.
Wem diese Sicht zu religiös ist, der kann Wesensgleichheit mindestens auf der Gefühlsebene verstehen: Alle Menschen wollen eigentlich Liebe erfahren und glücklich sein; sie stellen es nur unterschiedlich geschickt an. Oder auf der existenziellen Ebene: In der Zeit um die Geburt meines Sohnes herum habe ich mir gerne vorgestellt, wie viele Frauen (und Löwinnen, Kühe, Mäuse...) zur gleichen Zeit ihre Kinder gebären und sich mit sehr ähnlichen Gefühlen um deren Sicherheit und Ernährung sorgen würden.
Ein Bewusstsein
In den nicht-dualistischen Traditionen des Vedanta und des Buddhismus ist alles, was existiert, Ausdruck und Ausfluss der einen alles durchdringenden Bewusstheit. Brahman oder der Urgrund manifestiert sich in der unendlichen Vielfalt der Wesen und Dinge, ist in allem und gleichzeitig davon ungetrennt. Was auch immer wir betrachten, ist Teil dieses Einen, nichts existiert außerhalb davon. Aus dieser Sicht sind wir nicht nur mit allem verbunden, sondern mit allem eins, weil wir Anteil an derselben Bewusstheit haben. Zweck aller meditativen Übung ist es, direkte (und damit unzweifelhafte) Erfahrungen dieser transpersonalen Essenz unseres Geistes zu machen.
Einen wenn auch vorläufigen Zugang zu dieser Denkweise können vielleicht Erfahrungen aus kreativen Momenten vermitteln: In einer Band gemeinsam improvisierender Musiker oder in einer Gruppe von Menschen, die miteinander brainstormen oder forschen, weiß man manchmal nicht, von wem ein bestimmter Einfall gekommen ist. Eine Wendung oder eine Idee lag gewissermaßen in der Luft, entstand in einem Feld, gehörte allen und keinem. Die individuelle Begabung ist dann die Fähigkeit zum Bündeln, zum Formulieren, zum Sichtbar- oder Hörbarmachen.
Es geht mir nicht darum, ein festes Bild oder gar eine Ideologie von der Wirklichkeit zu vermitteln. Ich möchte vielmehr dafür werben, einen eher spielerischen Umgang mit dem Zusammenhang zwischen Selbst und Welt zu entwickeln. Wir können solche Bilder der Verbundenheit „anprobieren“ und schauen, ob sie „passen“ und ob wir darin etwas wiedererkennen, was wir eigentlich schon wussten.