Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

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Die Stille im Geist

von Michaela Kleber

Yoga bedeutet, dass die Bewegungen des Geistes zur Ruhe kommen. So heißt es in dem berühmten Yogasutra von Patanjali vermutlich aus dem vierten Jahrhundert nach Christus. Dieser Text besteht aus 195 Sutren – das sind kurze Merksätze oder Aphorismen – in vier Kapiteln. In der Literatur wird das Yogasutra oft als Yogaphilosophie bezeichnet; das ist jedoch eher ein irreführender Ausdruck. Eigentlich ist es viel eher eine Yogapsychologie, eine genaue Beschreibung davon wie unser menschlicher Geist funktioniert und wie wir mit ihm umgehen müssen, um unnötiges Leid zu vermeiden. Das Yogasutra zu verstehen ist kein einfaches Unterfangen, selbst nicht für Menschen, welche die altindische Sprache Sanskrit beherrschen. Erstens haben Sanskritbegriffe häufig sehr viele Bedeutungen, und man muss von einer Sache sehr tiefe Kenntnis haben, um zu wissen, welche dieser Bedeutungen im jeweiligen Kontext heranzuziehen ist. Zweitens sind die Sutren Kurzformeln, die sich gut zum Auswendiglernen eigneten, hinter denen aber immer ausführliche mündliche Erläuterungen standen. Die beste Quelle, die ich bislang gefunden habe, ist Swami Hariharananda Aranya, Yoga Philosophy of Patanjali, ein gut verständlicher englischer Kommentar von 1963, der seinerseits einen berühmten Kommentar aus dem 5. Jahrhundert zugunde legt.

Die Bewegungen des Geistes, die im Yoga zur Ruhe kommen sollen, sind die Gedanken und Gefühle; dazu zählen auch innere Bilder und Klänge und überhaupt alles, was in unserem Geist vor sich geht. Ziel des Yoga ist es, dass während der Übung Stille im Geist einkehrt und an die Stelle der inneren Umtriebigkeit eine große Klarheit, Leichtigkeit und Friedlichkeit tritt. Im Alltag – zwischen den Zeiten auf der Matte – erinnern wir uns immer wieder an diesen Zustand, verbinden uns damit und ernten die Früchte davon: größere Wachheit und Bewusstheit, Gelassenheit und Warmherzigkeit.

Für moderne Yoga-Übende könnte diese Sicht des Yoga überraschend sein, führt doch ein sportlich ehrgeiziges Übungsprogramm, bei dem man immer wieder die Grenzen der eigenen Kraft und Beweglichkeit erlebt, nicht unbedingt immer zur Beruhigung der Gedanken und Gefühle. Und die Friedlichkeit mag dann manchmal eher den Beigeschmack der Erschöpfung haben als den der Gelassenheit und Glückseligkeit. Tatsächlich ist die starke Betonung der körperlichen Fitness im modernen Yoga ein Kind der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Wiederentdeckung des Yoga in Indien mit einem weltumspannenden Trend zur Körperkultur und körperlichen Ertüchtigung zusammentraf. Als Patanjali im Yogasutra die yogische Weisheit der Jahrhunderte um Christi Geburt zusammenfasste, ahnte er natürlich noch nichts von dieser Entwicklung.

War früher das Üben von Körperhaltungen ganz selbstverständlich nur die Vorbereitung auf die Meditation, so muss ich heute „Yoga und Meditation“ ankündigen, wenn ich plane, mehr als 5-10 Minuten auf das stille Sitzen zu verwenden, quasi als Warnung, damit man sich nicht erschreckt, wenn die Arbeit mit dem Geist plötzlich so im Mittelpunkt steht. Trotzdem ist unser heutiges körperbetontes Verständnis des Yoga nicht unbedingt etwas völlig anderes als die stille Meditation: Indem wir Atem und Bewegung koordinieren und unsere Aufmerksamkeit auf beide konzentrieren, legen wir den Geist quasi an die Leine und hindern ihn daran, sich allzu sehr mit Erinnerungen und Plänen, To-do-Listen, Terminen, Wünschen, Ängsten und Ärger zu beschäftigen. Da kehrt schon ein wenig Ruhe ein, noch bevor wir uns am Ende der Stunde still hinsetzen und nur noch den Atem spüren. Unverzichtbar ist dabei die Langsamkeit im Atem und in der Bewegung, die es uns erlaubt, jedes Detail aufmerksam und bewusst zu erleben. Und wir brauchen auch die innere Absicht, tatsächlich präsent und still werden zu wollen, denn erst diese Absicht gibt uns die Kraft, immer wieder zu Atem und Körperempfindung zurückzukehren, wenn wir entdeckt haben, dass wir abgelenkt waren. Ich behaupte, dass das Wohlgefühl, das sich am Ende einer Yogastunde in der Regel einstellt, mehr mit dieser geistigen Konzentration zu tun hat als damit, genau welche Bewegungen und Haltungen wir geübt haben.

Natürlich können wir auch außerhalb unserer Yogamatte zu einem stillen, friedlichen Geist finden. Allerdings warnen schon die alten Kommentare vor zwei möglichen Missverständnissen:

Der stille friedliche Geist, den wir suchen, ist gleichzeitig sehr wach, energiegeladen, hell und leicht. Wenn unser Geist aus Müdigkeit und Erschöpfung still ist, wenn wir in Trance sind oder Alkohol getrunken haben und nicht mehr ganz klar im Kopf sind, so mögen wir auch da unsere Sorgen vergessen und eine gewisse Entspannung finden. Mit dem Ziel des Yoga hat das jedoch nichts zu tun. Im Ayurveda sagt man, der Geist kann drei Zustände (und Mischungen daraus) einnehmen: Er kann

  • energiegeladen, unruhig und aktiv sein (rajas) oder
  • träge, schwer und vernebelt (tamas) oder
  • enegiegeladen, ruhig, klar, weit und hell (sattva).

Im Yoga suchen wir den „sattvigen“ Geist, während wir nach zwei Glas Bier eher einen „tamasigen“ Geist haben.

Und es hat auch nichts mit Yoga zu tun, wenn wir gelegentlich in einen sattvigen Geisteszustand finden, ihn aber nicht regelmäßig und willentlich herbeiführen können. Wenn es uns zum Beispiel mit Hilfe einer bestimmten Beschäftigung, bei schönem Wetter, in einer außergewöhnlichen Landschaft, bei einer bestimmten Musik oder in einer bestimmten Gesellschaft gelingt, uns weit, wach und glücklich zu fühlen, wir dazu aber unter weniger günstigen Umständen nicht in der Lage sind. Im Yoga geht es darum, den Geist durch Übung an diesen Zustand so zu gewöhnen, dass wir uns – möglichst unabhängig von den äußeren Umständen – von selber immer wieder daran erinnern und dann auch dorthin zurück finden können.

Gleichzeitig können wir die Ferien und die hoffentlich damit verbundenen guten äußeren Umstände wunderbar dazu nutzen, den friedlichen Geist bewusst zu kultivieren. Anstatt die Zahl der Erlebnisse zu maximieren können wir mehr Zeit dafür einplanen, immer wieder still zu werden, zu schauen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken …. jeden Moment zu genießen. Wenn wir zum Beispiel einer Musik lauschen, können wir versuchen im Hören zu bleiben und immer dann, wenn wir bemerken, dass wir in Gedanken waren und die letzten Takte nicht mitbekommen haben, zum Hören zurückkehren. Wenn wir wandern, radfahren oder schwimmen, können wir versuchen, im Schauen und Fühlen zu bleiben und immer wieder dorthin zurückkehren. Wenn uns die Weite der Landschaft begeistert, können wir spüren, dass unser eigener Geist weit ist und sich in ihr wiedererkennt. Wenn wir mit Freunden, dem Partner, der Partnerin oder unseren Kindern unterwegs sind, können wir immer wieder versuchen, aus unserem eigenen inneren Film auszusteigen, ein wenig Abstand zu nehmen von unseren Erwartungen, Enttäuschungen und Befürchtungen, und unsere Liebsten für diesen Moment ganz neu wahrzunehmen. Und wenn dann plötzlich eine Ahnung von Leichtigkeit, Klarheit oder Glückseligkeit aufblitzt, verstehen wir vielleicht, dass wir diese Möglichkeit die ganze Zeit in uns haben, wenn auch oft versteckt hinter all dem Getriebensein.