Yoga

Michaela Kleber

Yogalehrerin

click click

Yogapsychologie und Selbstfürsorge

von Michaela Kleber

Vermutlich im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entstand das Yogasutra, eine Sammlung von 195 Merksätzen (Sutren), die einem unbekannten Weisen namens Patanjali zugeschrieben werden. Es geht darin um die Frage, wie unser Geist funktioniert und wie wir durch Reflexion, richtiges Verstehen und vor allem durch Übung erreichen können, überflüssiges Leiden in unserem Leben zu vermeiden. Der Autor hat diese Einsichten nicht erfunden, sondern systematisch das Wissen zusammengefasst, das Meditierende in Indien über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatten. Spätere Autoren haben diesen eher kurzen Text ausführlich kommentiert und damit heutigen Lesern überhaupt erst zugänglich gemacht. Er gilt noch immer als wichtigste Quelle für den Yogaweg.

Spielerischer Umgang mit dem Selbstbild

Ein Grund, warum wir im Leben immer wieder in Stress und Konflikte geraten, liegt in unserer falschen Vorstellung von uns selbst. Wir identifizieren uns unter anderem mit unserem Körper und underem Aussehen, mit unseren tatsächlichen oder eingebildeten Fähigkeiten, mit unseren Rollen und Aufgaben, mit unserer Zugehörigkeit zu Familie, Nation, Religionsgemeinschaft, Kultur oder Subkultur, mit unseren Meinungen, Gefühlen und Gewohnheiten und mit unserem Status in der Gesellschaft. Aus all dem entsteht ein Konstrukt, das wir unser Ich oder unsere Persönlichkeit nennen und mit viel Energie aufrechterhalten, ausbauen und verschönern.

Das Yogasutra sagt uns, dass alle diese Elemente unseres Selbstbildes flüchtig und vergänglich sind und dass der Versuch, daraus etwas Dauerhaftes zu machen, woran wir uns festhalten können, zu überflüssigem Leiden führt. Nun werden wir wahrscheinlich nicht von heute auf morgen unser persönliches Selbstbild über Bord werfen. Wir brauchen ja ein einigermaßen stabiles Ich-Gefühl, um in der Welt funktionieren zu können. Aber die Erkenntnis, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, kann helfen, dass wir einen eher spielerischen, experimentellen Umgang damit finden. Dass wir uns erlauben, leichtfüßiger und mit weniger Ballast durch das Leben zu gehen und nicht mehr so viel Energie dafür aufzuwenden, unser Selbstbild zu verteidigen.

Eigene Muster erkennen und verändern

Alles was wir erleben – unsere Gedanken und Gefühle, unser Tun und Verhalten und die Erfahrungen, die wir in Folge davon machen – hinterlässt Spuren in unserem Geist. Diese Spuren sind unbewusste Muster, latente Eindrücke, die jederzeit durch irgendein Ereignis – eine Person, ein Wort, ein Bild, einen Geruch – getriggert werden können. Damit wird ein neuer Kreislauf angestoßen: Bestimmte Gedanken und Gefühle führen erneut zu bestimmten Aktivitäten – Worten, Bewegungen, Handlungen, Verhaltensweisen – deren Konsequenzen uns gute oder schlechte Erfahrungen machen lassen und die gespeicherten Eindrücke verstärken. Nicht nur unsere bewussten Gewohnheiten, sondern alle unsere Muster, von der Verdauung über den Gang, die Denk- und Sprechweise bis hin zum sogenannten Charakter beruhen auf solchen selbstverstärkenden Kreisläufen. Yoga bedeutet in dieser Sichtweise, die eigenen Muster durch Achtsamkeit zu erkennen, Einsicht zu entwickeln darüber, welche dieser Muster uns Leiden schaffen, und neue, zufrieden und glücklich machende Muster einzuüben.

Gelassenheit entwickeln

Alle Erfahrungen, die wir machen, bewerten wir automatisch als angenehm, unangenehm oder neutral. Der Wunsch, das Angenehme zu wiederholen oder festzuhalten und das Unangenehme zu vermeiden oder loszuwerden, ist der Motor hinter den meisten unserer Aktivitäten, ein Muster, das wir mit allen Lebewesen teilen und das für unser Überleben und Dazulernen eine unerlässliche Voraussetzung ist. Wenn wir aber all unsere Energie dafür einsetzen, das Schöne festzuhalten und das Schmerzhafte zu vermeiden, dann wird dieser Antrieb zu einer Quelle der ständigen Unzufriedenheit und des Leidens. Egal um welches problematisches Verhalten es geht, ob jemand an anderen Menschen klammert, Gier und Süchte entwickelt, Veränderungen ablehnt, Aversionen und Groll gegen andere pflegt, von verbissenem Ehrgeiz getrieben wird, aus Trägheit nicht in der Lage ist selbstgesteckte Ziele zu erreichen, aus Stress nicht mehr herausfindet usw. – meist können wir ein für die negativen Folgen blindes Erleben-wollen oder Nicht-erleben-wollen als Motor dahinter entdecken.

Auf dem Yogaweg geht es deshalb darum, unabhängig von den äußeren Bedingungen Zufriedenheit und Gelassenheit zu entwickeln, eine schöne Erfahrung genießen zu können, ohne sie festhalten zu wollen, und nicht auf jede unangenehme Erfahrung mit Ablehnung und Ärger oder mit Angst zu reagieren. Jeder Schritt in diese Richtung gibt uns ein Stück innerer Freiheit.

Den Geschmack von Liebe und Freude erkennen

Wenn wir durch Übung eine gewisse innere Ruhe erlangen, so sagt uns das Yogasutra, dann ist ein leichter, heiterer Geist quasi eine „Nebenwirkung“ davon, ein Geist, der uns selbst angenehm ist und auch den Wesen, mit denen wir zu tun haben.

Mit einem solchen unverkrampften Geist können wir in unangenehmen Situationen, bei Schmerz, Krankheit und Verlust, das Richtige tun, ohne uns mit negativen Gedanken zusätzlich zu quälen. Oder wir können in einer schwierigen Situation nicht nur die Herausforderung, sondern auch die Chancen erkennen. Oder wir können etwas Unabänderliches hinnehmen, ohne unsere Energie damit zu verschwenden, dass wir vergeblich dagegen ankämpfen. Ein solcher angenehmer Geist fühlt sich angezogen von den vielen kleinen und großen alltäglichen Möglichkeiten zum Erleben von Schönheit und zum Staunen. Und nicht zuletzt hat ein Moment echter innerer Stille den Geschmack von Liebe und Freude und lässt uns erkennen, dass diese beiden zutiefst zu uns gehören und dass sie von äußeren Ereignissen zwar getriggert werden können aber im Grunde von ihnen unabhängig sind.

Ganzheitliche Selbstfürsorge

Obwohl die grundlegenden Ideen des Yogasutra, von denen hier einige angedeutet wurden, zweitausend Jahre alt sind, eignen sie sich wunderbar als Hintergrund, um in der heutigen Zeit eine weise, ganzheitliche Selbstfürsorge zu entwickeln. Unsere Lebensweise und unsere Erfahrungen als Menschen haben sich über die Zeit drastisch verändert, aber offensichtlich nicht die Art und Weise, wie wir in Körper und Geist darauf reagieren. Das Wort „ganzheitlich“ ist hier keine leere Formel: Im indischen Denken waren Bewegungsapparat, Energiezustand, Sinneswahrnehmung, Gedanken, Gefühle, Verhalten und Beziehung zur äußeren Welt immer schon untrennbar miteinander verbunden. Damit ist ganz selbstverständlich, dass alles, was auf einer Ebene geschieht, sich auch auf allen anderen Ebenen auswirkt, und dass wir auf allen Ebenen Impulse zur Veränderung setzen können und sollten.

Der moderne Gruppenunterricht im Yoga bringt es mit sich, dass wir vor allem auf der Ebene des Körpers und der Energie ansetzen. Die im Yogasutra enthaltenen vielfältigen Möglichkeiten, über Reflexion und den Umgang mit Gedanken, Gefühlen und Verhalten Einfluss zu nehmen auf unsere Lebensqualität, kommen dabei eher zu kurz. Mit der Seminarreihe „Yogapsychologie und Selbstfürsorge“ möchte ich Möglichkeiten anbieten, das Potential des Yoga Schritt für Schritt ein wenig mehr zu erschließen.