Entschleunigung
von Michaela Kleber
Sind Sie gestreßt? Sind Sie so sehr auf die Zukunft ausgerichtet, dass die Gegenwart nur noch ein Vehikel ist, um dorthin zu gelangen? Streß wird dadurch verursacht, daß wir „hier“ sind, aber „dort“ sein wollen, oder daß wir uns in der Gegenwart befinden aber in der Zukunft sein möchten. Das ist eine Spaltung, die uns innerlich zerreißt. Eine solche innere Spaltung zu erzeugen und damit zu leben, das ist der reine Wahnsinn. Die Tatsache, daß alle Leute das so machen, macht es nicht weniger wahnsinnig.
(Eckhard Tolle)
Wie die meisten Menschen, die gerne und viel reden, habe ich in meinem Leben gelegentlich jemanden mit Worten verletzt. Ein flapsiger Spruch, eine hart ausgesprochene Meinung, eine mehr oder weniger witzige Pointe auf Kosten von jemand anderem... schnell geschehen, oft unnötig und manchmal lange bereut.
Im klassischen Yoga nach dem Yogasutra des Patanjali (vermutlich 2. Jahrhundert) geht es in erster Linie darum, immer mehr innere Ruhe zu entwickeln. Nur ein stiller Geist – so Patanjali – erlaubt es uns, unser eigentliches Wesen zu erleben, anstatt uns mit einem falschen Selbstbild zu identifizieren und alle Energie darauf zu verwenden an angenehmen Erfahrungen zu klammern und unangenehmen Erfahrungen aus dem Weg zu gehen. In der Ethik des Yoga geht es deshalb auch nicht so sehr darum, ein besonders guter Mensch zu sein. Vielmehr soll ethisches Handeln helfen, einen Geist zu entwickeln, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt und der (uns selbst) nicht unnötig Leiden schafft. Und in diesem Sinne kann eben auch unser Sprechen (und Schreiben, Chatten, Posten...) heilsam oder unheilvoll sein.
Patanjali unterscheidet zwischen ethischen Regeln, die sich auf den Umgang mit anderen beziehen (Yamas) und Verhaltensübungen, die den Umgang mit uns selbst betreffen (Niyamas). Unter den Yamas kommt natürlich auch die Wahrhaftigkeit (Satya) vor. Die oberste Maxime aber ist Ahimsa, das Nicht-Verletzen: Oft ist es besser eine Unwahrheit zu sagen, als jemanden mit wahren Worten unnötig zu verletzen. Hier ist unsere Unterscheidungsfähigkeit gefragt: Wann ist es nötig, eine unangenehme Wahrheit auszusprechen, weil es für die anderen wichtig ist sie zu hören? Und wann läge darin eine überflüssige Härte, die wir besser vermeiden?
Zu den Niyamas, dem heilsamen Verhalten im Umgang mit uns selbst, gehört auch Tapas, ein Begriff, der mit Selbstbeherrschung, Disziplin, Willenskraft oder Askese nur unzureichend übersetzt werden kann. Letztendlich geht es darum, den Willen und die Energie aufzubringen, etwas als heilsam und wohltuend Erkanntes tatsächlich auch regelmäßig zu tun (bzw. etwas als unheilsam Erkanntes zu lassen). "Den inneren Schweinehund besiegen" ist ein gängiger flapsiger Ausdruck, der dem sehr nahe kommt.
Dieses Tapas kann man auch auf das Sprechen beziehen. In den Kommentaren ist in diesem Zusammenhang oft vom Schweigen die Rede. Viele kennen das vielleicht aus Meditationswochen, die im Schweigen verbracht werden. Ein paar Tage lang überhaupt nicht zu sprechen ist nach meiner Erfahrung tatsächlich so angenehm und entspannend, dass es mir danach anfangs oft schwer fällt, den Mund wieder aufzumachen. Aber diese Wirkung verliert sich auch rasch wieder, und mittelfristig verändert diese Übung nicht die Art und Weise meines Sprechens. Der bekannte Yogalehrer A.G. Mohan sagt deshalb gerne, man solle kein Schweigeretreat machen sondern ein Sprechretreat. Er meint damit, dass wir üben sollten, im Alltag viel weniger zu sprechen, nicht nur nichts Verletzendes sondern auch nichts Unnötiges zu sagen. Wir brauchen deshalb nicht einsilbig zu werden oder nur zu sprechen, wenn wir Tiefgründiges zu sagen haben. Auch Smalltalk hat ja eine durchaus positive Funktion: Wir wärmen uns gewissermaßen auf, um besser miteinander in Kontakt zu kommen. Oder wie es in der Bhagavadgita (17. Kapitel, Vers 15) heißt: "Das Tapas der Sprache ist Rede, die keine Unruhe erzeugt, die wahrhaftig, liebreizend und wohltuend ist..." Gleichzeitig ist es eine durchaus spannende Übung, sich selbst beim Sprechen zuzuhören und immer wieder einmal einem Sprechimpuls nicht nachzugeben.
Die Gründe dafür finde ich am schönsten zusammengefasst in der Geschichte von den drei Sieben, die Sokrates (5. Jhdt. v. Chr.) zugeschrieben wird:
Die drei Siebe
Ein Junge namens Polimus kam aufgeregt zu Sokrates gerannt. Noch im Lauf begann er: "Verehrter Sokrates, ich muss euch etwas berichten!"
Doch Sokrates unterbrach den herstürmenden Jüngling: "Stopp deine Rede!", entgegnete er, "Hast du das, was du mir erzählen willst, durch die drei Siebe des Weisen gesiebt?"
"Wie meint Ihr? Welche drei Siebe?"
"Das erste Sieb ist die
"Nun ja, es wurde mir berichtet. Sicher bin ich mir nicht."
"Nun denn, Polimus, dann lass uns das zweite Sieb prüfen. Es ist die
Der junge Mann wurde unsicher: "Nein, eher im Gegenteil ..."
"So, so", schmunzelte der Weise, "erfüllt deine Geschichte wenigstens die Bedingung des dritten Siebes, der
Polimus verzagte. "Nein, ihr müsst es wirklich nicht wissen."
"Also", beschied Sokrates, "wenn deine Geschichte weder wahr noch von Güte oder Notwendigkeit ist, dann belaste weder dich noch mich damit, lieber Polimus."