Die Augen im Blick
von Michaela Kleber
If you don’t use it, you lose it. Zu Deutsch: Was wir nicht benutzen, geht verloren. Das gilt für die meisten körperlichen und geistigen Funktionen und so auch für unsere Augen und ihre Sehkraft.
Was aber sollten unsere Augen können? Wofür sind sie im Lauf der Evolution optimiert worden? Hier eine Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Beide Augen können sich auf ein- und denselben Punkt einstellen, was wir brauchen, um im Gehirn ein dreidimensionales Bild zu erzeugen.
- Die Augen können sich an verschiedene Lichtintensitäten durch Erweiterung und Verengung der Pupillen anpassen.
- Die Augen können Gegenstände in beliebigen Entfernungen fokussieren und recht schnell zwischen verschiedenen Entfernungen umstellen. Man kann sich leicht vorstellen, wie wichtig das in der Menschheitsgeschichte war, von einer Arbeit im Nahbereich bei einem ungewohnten Geräusch blitzschnell aufschauen und nach Gefahrenquellen in mittlerer und weiter Entfernung spähen zu können.
- Die Augen können auch ohne Kopfbewegung ihre Blickrichtung ändern.
- Die Augen können umschalten zwischen Fokussierung auf einen engen Bildausschnitt und einem weichen, entspannten Blick, der nichts ganz scharf sieht, aber einen sehr weiten Bildausschnitt im Blick hat und selbst aus den Augenwinkeln noch Bewegung wahrnehmen kann. Wir können also im Gehirn entscheiden, ob wir die Augen benutzen wollen, um einen Überblick über unsere Umgebung zu haben (auf Kosten der Sehschärfe) oder um etwas Bestimmtes ganz genau zu sehen (auf Kosten des Gesichtsfelds).
- Die Augen können sich durch den Lidschlag selbst befeuchten.
Der Gebrauch, den wir typischerweise im heutigen Alltagsleben von unseren Augen machen, vernachlässigt die vier letzten Punkte: Viel zu selten schauen wir in die Ferne oder wechseln zwischen verschiedenen Entfernungen oder Blickrichtungen hin und her. Viel zu viel Zeit verbringen wir mit einem Blick der relativ starr und oft auch mit verringerter Lidschlaghäufigkeit auf die Nähe, insbesondere auf Bildschirme aller Art, fokussiert ist. Und viel zu selten lassen wir unsere Augen einfach nur mit weichem Blick spazieren gehen.
die Kurzsichtigkeit nimmt aufgrund der Bildschirmarbeit weltweit zu. Ein Viertel der Weltbevölkerung ist kurzsichtig. Das stimmt in etwa auch für Deutschland. Die Hälfte der europäischen Jugendlichen leidet an Kurzsichtigkeit. In Asien sind die entsprechenden Anteile noch viel höher. Als einer der Hauptgründe gilt ein Mangel an Bewegung im Freien im frühen Kindesalter. Vor allem im Freien gebrauchen wir unsere Augen so, wie sie eigentlich gemeint sind.
Wenn ich meinen Augen etwas Gutes tun will, kommt mir deshalb als erstes in den Sinn, nach draußen zu gehen. Spazierengehen, Nordic Walking, Joggen oder jeder andere Sport im Freien ist wunderbar, um ein Gegengewicht zu setzen zum Lesen und zur Beschäftigung im Nahbereich ob mit oder ohne Bildschirm. Wichtig ist nur, dass wir den Blick ausgiebig und entspannt schweifen lassen, so dass alle die vernachlässigten Augenfunktionen dabei zum Tragen kommen.
Im Yoga geben wir den Augen viel, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist. Bewegung und Entspannung von Schultern und Nacken zum Beispiel verbessert die Durchblutung der Augen und des Gehirns. Die Konzentration auf das Spüren von Körper und Atem nimmt Aufmerksamkeit weg vom Gesichtssinn und erlaubt einen weichen entspannten Blick und – außer vielleicht bei den Stehübungen – sogar das Schließen der Augen. Und auch die allgemeine Entspannung hilft den Augen: Jeder hat schon einmal erlebt, dass nach einer tiefen Entspannung der Blick auf einmal klarer, das Bild farbiger geworden ist. Eine Studie der Universität Magdeburg aus dem Jahr 2018 belegt, dass Sehkraftverlust auch eine Folge von Stress sein kann und dass umgekehrt Entspannungstechniken und Meditation zur Verbesserung der Sehkraft beitragen. Das alles gehört zu der großen Zahl wunderbarer Nebenwirkungen des Yoga.
Natürlich können wir auch spezielle Übungen für die Augenmuskulatur gezielt in unser Yogaprogramm aufnehmen. Auch Bewegungen der Augenmuskulatur im Sinne der Punkt 3.-6. der obigen Aufzählung lassen sich in den verschiedensten Positionen üben und gut mit dem Atem verbinden. Wichtig ist dabei vor allem, dass wir nicht zu viel auf einmal wollen. Wie alle Muskeln müssen sich auch die Augenmuskeln Schritt für Schritt an Training gewöhnen und immer wieder entspannen.
Letztendlich gilt für die Augen, was für den ganzen Körper gilt: Eine Steigerung der Fitness ist ein angenehmer Nebeneffekt, wenn wir richtig üben. Was wir direkt anstreben und von der Matte ins Alltagsleben mitnehmen wollen, ist eher ein liebevollerer Umgang mit uns selbst und anderen, ein feineres Gespür für das, was der Körper braucht, und ein stabiler, gelassener und angenehmer Geist, der gelernt hat, bei dem zu sein, was jetzt geschieht, und aus dieser Ruhe heraus angemessen zu handeln. Und auch das kommt dann indirekt wieder den Augen zugute: Vielleicht merken wir schneller, wenn sie müde oder überfordert sind und verweigern uns der Informationsflut oder machen eine Pause, einen Augenspaziergang, eine kleine Meditation....